Sterbehilfe lässt die Leidenden im Stich (11.4.2024)

Zunehmend wird der Standpunkt vertreten, dass jeder Mensch selbst bestimmen darf, wie und zu welchem Zeitpunkt er sein Leben beenden will. In den Niederlanden darf mittlerweile das Leben eines Kindes mit „aller nötigen Sorgfalt“ – so formuliert es die Regierung – beendet werden, wenn bei einem Neugeborenen Beschwerden vorliegen, die von den Eltern und zwei voneinander unabhängigen Ärzten als „unerträglich und ohne Aussicht auf Besserung“ erachtet werden. Ist Sterbehilfe tatsächlich die Lösung? Ist diese Sichtweise mit der menschlichen Würde und Freiheit zu vereinbaren? Dieser Artikel ist in Interview-Form geschrieben und gibt meine Standpunkte zur Sterbehilfe wieder.

 

Die gegenwärtigen Entwicklungen wie in den Niederlanden lassen die Sterbehilfe in immer mehr Fällen und immer früher im Leben zu. Wie sehen Sie diese Tendenzen?  

Mit grosser Besorgnis. Jedes menschliche Leben ist wertvoll. Gott hat uns das Leben geschenkt und nur er darf entscheiden, wann es zu Ende geht. In der Bibel sehen wir, dass Gott auch Wunder vollbringt. Deswegen dürfen wir nicht ausschliessen, dass er auch in unserem Leben Wunder vollbringt. Dies kann entweder körperliche Heilung sein oder seelische Gesundung oder er schenkt uns die Kraft, sehr schwierige und scheinbar ausweglose Situationen auszuhalten. Insofern ist Sterbehilfe als Ausdruck des Zweifels zu sehen, dass man Gott misstraut, dass er einen guten Ausweg schaffen kann.

Aber auch Menschen, die nicht an Gott glauben, können meines Erachtens aus der menschlichen Natur, die nach Leben und Entwicklung strebt, erkennen, dass Sterbehilfe der falsche Weg ist. Auch im grössten Leiden kann ein Sinn liegen. „Ich sehe zunehmend ein“, so der Psychiater Viktor Frankl (1905-1997), der vier Konzentrationslager überlebte, „dass das Leben so unendlich sinnvoll ist, dass auch im Leiden und sogar im Scheitern noch ein Sinn liegen muss.“ Frankl war überzeugt von der Bedeutung und Einmaligkeit jedes Menschen, weshalb er den Suizid kategorisch ablehnte.

Hat der Glaube einen Einfluss, wie der Einzelne über Sterbehilfe denkt?  

Ja, absolut. Gott ist die Quelle des Lebens und von daher prägt der Glaube die menschliche Sicht auf die Sterbehilfe.

Wie beurteilen Sie das Argument, dass ein Mensch ein Recht auf Autonomie hat und über sein Lebensende allein entscheiden soll?

Sterbehilfe wird von den Befürwortern als Ausdruck des menschlichen Selbstbestimmungsrechts gesehen. Stimmt dies wirklich? Wie frei sind Menschen tatsächlich, die sich mit der Entscheidung der Selbsttötung beschäftigen? Menschen, die unter unsagbaren Schmerzen leiden, die unheilbar krank sind und sich als Last für andere fühlen? Die Freiheit ist in solchen Situationen eingeschränkt bzw. sogar ausgeschaltet und wird nur allzu oft von einem „Tunnelblick“ überlagert. Die Selbsttötung erscheint als der einzige Ausweg. Von einer freiheitlichen Handlung kann hier kaum die Rede sein, vielmehr von einem Akt der Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Die Sterbehilfe lässt letztlich die Leidenden im Stich.

Sollte das Leben eines Menschen um jeden Preis erhalten werden?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Man ist nicht verpflichtet, jedes erdenkliche Mittel anzuwenden, um das Sterben möglichst lange hinauszuzögern. Angezeigt ist, die verhältnismässigen Mittel anzuwenden. Dabei ist der körperliche und seelische Zustand des Patienten zu betrachten und im Hinblick darauf die Art der Therapie, ihr Aufwand, ihre möglichen Nebenwirkungen und die Schwierigkeit ihrer Anwendung ins Verhältnis zum möglichen Resultat/Nutzen zu setzen.

So ist wohl für einen 45 Jahre alten Patienten mit ansonsten normaler Gesundheit eine Herzklappenoperation kein unverhältnismäßiges Mittel, wohl aber für einen Patienten der gleichzeitig an einer anderen unheilbaren und in kurzer Zeit zum Tode führenden Erkrankung leidet oder für einen 92-Jährigen, bei dem das Risiko, an der Operation zu sterben, deutlich erhöht ist.

Im Jahr 2022 haben sowohl der Zürcher Kantonsrat als auch das Walliser Stimmvolk entschieden, dass öffentliche Alters- und Pflegeheime Sterbehilfe in ihren Räumlichkeiten zulassen müssen. Ich nehme an, Sie hätten anders entschieden.

Die Sterbehilfe, insbesondere in Alters- oder Pflegeheim anzubieten, lehne ich ab. Solchen Entwicklungen sollten wir als Gesamtgesellschaft entschieden den Riegel schieben! Dies umso mehr, wenn wir uns die möglichen Folgen einer solchen Entwicklung vor Augen halten: Unsere Sicht auf das Leben wird sich zwangsläufig verändern.

Inwiefern?

Der Wert des Lebens wird zweifellos weiter gemindert, wenn Sterben eine mögliche Option wird. Aus einem Recht auf Suizidhilfe kann dann schnell auch die Pflicht zur Rechtfertigung folgen, warum man diese nicht auch in Anspruch nimmt.  Man stelle sich nur eine Situation vor, in der die betroffene Person sich als Last für die Umwelt sieht und von ihrem Umfeld allein gelassen bzw. unter Druck gesetzt wird.

Auch der Druck auf das Personal in Spitälern und Heimen, beim Suizid zu assistieren, dürfte steigen, wenn das Recht auf Suizidhilfe zur „normalen“ Möglichkeit am Lebensende wird. Dazu kommt, dass Familienangehörige und Freunde unter der Selbsttötung eines Nahestehenden leiden und sich Fragen nach dem Warum stellen. Verlängerte Trauer wie auch Depressionen können die Folge sein. Der Suizid löst den jeweiligen Menschen zwar von der Welt, aber er löst ihn nicht aus seinen sozialen Banden.

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Sterbehilfe könnte den Druck auf die Betroffenen erhöhen, aus dem Leben zu scheiden.

Ja. Es ist zu befürchten, dass ältere Menschen sich unter Druck fühlen, weil ihr Aufenthalt im Alters- oder Pflegeheim das mögliche Erbe der Kinder aufbraucht. Deswegen fühlen sich einige betagte Menschen genötigt, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, um ihren Kindern nicht weiter finanziell zur Last zu fallen. Angesichts der steigenden Kosten im Sozial- und Gesundheitsbereich könnten auch politische und wirtschaftliche Abwägungen diese Tendenz verschärfen.

 Die Sterbehilfeorganisationen verzeichnen steigende Zahlen. Gemäss eigenen Angaben hat „Exit“ im Jahr 2022 bei über 1‘000 Menschen Sterbehilfe geleistet und verfügte per Ende Dezember 2022 über mehr als 150‘000 Mitglieder. Nähern wir uns einer „Unkultur des Todes“ in unserer Gesellschaft? 

Das könnte man durchaus so sehen. Wird die Arbeit von Sterbehilfeorganisationen weiter etabliert, ist auch zu befürchten, dass das bis anhin geltende christliche Menschenbild in unserer Gesellschaft weiter zurückgedrängt wird und damit auch die personale, subjektive Würde, die dem Menschen als Abbild Gottes verliehen ist. Wohl deshalb ist die christliche Stimme mehr oder weniger noch die einzige, die sich für den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens einsetzt und die Arbeit von Sterbehilfeorganisationen kritisiert. Geht diese Überzeugung verloren, geht auch die Achtung vor dem sterbenden Menschen und seinem Leben verloren. In seiner verabsolutierten Autonomie verliert der Mensch genau das, was er als Ausdruck seiner Entscheidung sieht: seine Freiheit.

Was würden Sie gegen den Trend zur Sterbehilfe tun, wenn Sie in Gesellschaft und Politik verstärkten Einfluss hätten?

Aus der christlichen Nächstenliebe ergibt sich klar, dass wir besonders den schwerkranken und leidenden Menschen mit Hilfe und Solidarität begegnen und die Palliativmedizin stärken und ausbauen sollten. Unter Palliative Care verstehe ich dabei alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen. Zudem braucht es dringend wieder eine Stärkung der familiären und gesellschaftlichen Bande. Der gegenwärtigen Entsolidarisierung mit kranken und leidenden Menschen ist unbedingt entgegenzuwirken.

Es ist eine der zentralen Aufgaben unserer Gesellschaft, Menschen, die sich aufgegeben haben und Suizidhilfe in Betracht ziehen, zu unterstützen und sie in ihrem Leid anzunehmen. Schenken wir den krisengeschüttelten Menschen Hoffnung, neuen Lebensmut und vor allem auch neue Perspektiven, dass diese wieder zu einem Ja in ihrem Leben finden.