Söhne brauchen Väter (Teil 1)

Von Siegfried Selcho und Ralph Studer

Der Artikel will Väter ansprechen, ihre Söhne durch die Pubertät zu begleiten. Vor allem will er ihnen eine Orientierung geben, damit sie verstehen, wie Jungs in der Pubertät innerlich „funktionieren“. Eine von der Psychoanalyse und von der 68er Generation geprägte Pädagogik hat uns eingeredet, dass Söhne mit Eintritt in die Pubertät nur noch eines wollen: Raus aus dem Elternhaus. Dagegen hat eine an Bindung, Emotionsregulation und Mentalisierung interessierte entwicklungspsychologische Forschung zu Tage gefördert: Söhne brauchen ihre Väter. Vor allem dann, wenn sich ihre Welt mit Eintritt in die Pubertät radikal verändert.

Vater und Sohn erkennen sich

Damit sich Väter besser in das Werden und die Entwicklung eines Sohnes einfühlen können, zunächst einige wichtige Hintergrundinformationen.  Ob sich ein Vater mehr über einen Jungen als über eine Tochter freut, wenn er es nach der Geburt in den Armen hält, sei einmal dahingestellt. Väter reagieren höchst unterschiedlich auf das Geschlecht ihrer Kinder. Allerdings freut sich ein Junge über seinen Vater! Denn, so die entwicklungspsychologische Forschung unserer Tage, reagiert bereits das männliche Kleinkind mit seinem Körper eher auf den Vater als auf die Mutter. So werden dann, wenn der Vater den Raum betritt, die Bewegung des Jungen lebendiger und noch vor dem dritten Lebensjahr freut sich der Junge, den Vater körperlich zu imitieren. Der Grund dafür liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass der Junge den Vater nicht nur mit seinem Verstand als „Gleichen“ begreift, sondern tief in seinem Körper, in seinen Muskelspindeln, kinästhetisch wie man sagt, nachempfinden kann. Mit seinem ganzen Körper also, spürt der Junge, dass der Vater ihm ähnlicher ist als die Mutter und er eher mit dem Vater als mit der Mutter „schwingt“.

Von daher kommt der Junge mit der Lust auf die Welt, sich mit dem Vater zu identifizieren. Und Väter, die sich auf ihren Jungen einlassen, werden in dieser Aufgabe von Lust und Freude erfüllt, wenn sie selbst ein positives Verhältnis zu ihrem eigenen Mannsein haben.

Der Vater bringt die Welt in die Familie

Bis zum Alter von ca. zwölf Jahren gehen Vater und Sohn meist durch eine sehr harmonische Zeit. Vor allem dann, wenn der Vater die Eigenschaften seines Mannsein bejahen kann. Diese finden sich in Abenteuerlust und in der Freude an Grenzen zu gehen. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte „Kamikazespiel“, das Väter oft mit ihren Kindern – Mädchen wie Jungen – spielen. Ein solches Spiel ereignet sich z.B. dann, wenn der Vater das Kind in die Luft wirft und wieder auffängt. Im Kind bricht dabei oft Begeisterung aus, wobei dem Vater die Aufgabe zukommt, die Neugier des Kindes für eine solche Grenzerfahrung zu wecken und dem Kind gleichzeitig Sicherheit in der Gefahr zu geben und die kindliche Euphorie immer wieder etwas zu bremsen. Eine andere Eigenschaft des Vaters ist, dass er dem Kind beibringt, die Welt zu verändern. Denn für Männer sind die Dinge, mit denen wir täglich umgehen, veränderbar. So kann aus einem einfachen Löffel ein Hubschrauber werden, der in den Mund hineinfliegt, der kurzerhand zur Garage erklärt wird. Ebenso hat der Vater die Eigenschaft dem Kind die Regeln der Welt zu erklären. Denn er wird vom Kind als derjenige wahrgenommen, der das sichere Zuhause verlässt und wieder Heim kommt und dabei irgendwie „überlebt“. Diesem „Überleben“ bringt das Kind Respekt entgegen und glaubt dem Vater daher, wenn er die Regeln der Welt erklärt. Wozu zum Beispiel die Regeln von Anstrengung und Einordnung in eine Gruppe gehören. Man kann also sagen, dem Vater kommt in der Familie die Aufgabe der Welterklärung zu.

In der Familie ist es aber vor allem der Junge, der auf die Welterklärung und Welteroberung des Vaters anspricht. Denn – wie gesagt – sein ganzer Körper zieht ihn zum Vater.

Beziehung zwischen Vater und Sohn als Urgrund des Selbstbewusstseins

Von klein auf bis ins Alter von ca. 12 oder 13 Jahren freut sich ein Sohn über das, was ihm der Vater von der Welt zeigt. Er tut dies auf ganz unterschiedliche Weise. Manchmal verschmilzt sich der Junge mit der Kraft des Vaters und glaubt daher, vereint mit der Kraft des Vaters jedes Abenteuer bestehen zu können. Dann wieder idealisiert der Junge den Vater, was er durch Nachahmung ausdrückt. Er will genauso sein wie der Vater, er will das Gleiche tun und manchmal auch das gleiche haben. Das vermittelt dem Jungen das Gefühl gleich wie der Vater zu sein bzw. etwas vom Vater auf seinen eigenen Körper und damit auf seine eigenen Fähigkeiten ziehen zu können. Dann aber will der Sohn sich auch im Vater spiegeln. Er tut dies, indem er das in der Idealisierung vom Vater gelernte nicht nur wiederholt, sondern durch eigenes Experimentieren erweitert. Stolz zeigt der Sohn diese Experimente dem Vater und hat den Wunsch, dass der Vater sich über den Mut und die Erfindungsgabe des Sohnes freut. Mit seinem ganzen „Ich“ gespiegelt fühlt sich der Sohn dann, wenn ihn der Vater voller Stolz anschaut und ihm seine Freude mitteilt.

Man kann also sagen, dass zwischen Vater und Sohn vor Eintritt der Pubertät ein inniges Verhältnis besteht. – Bevor wir uns aber mit der Tatsache beschäftigen, wie dieses innige Verhältnis durch den Eintritt in die Pubertät unterbrochen wird, noch ein wichtiger Hinweis.

Wie bereits im Artikel „Erziehung zum gesunden, freien Jungen“ in der Juli-Ausgabe 2020 des Mitteilungsblattes dargestellt, hilft der Vater dem Sohn durch die Beziehung zur inneren Einheitlichkeit seines Personseins. Und im Zuge der oben skizzierten Prozesse, in denen der Vater dem Sohn durch manche Krise hilft, baut das Kind – wenn alles gut läuft – ein inneres Arbeitsmodell auf, mit dem es sich beim Erleben seiner Stärken und Schwächen, Gaben und Grenzen und in den Herausforderungen des Lebens bis zu einem gewissen Grad selbst regulieren kann. Es soll noch einmal betont werden, dass dies eine der wichtigsten psychischen Fähigkeiten ist, die ein Junge, aber auch ein Mädchen, in der Beziehung zu den Eltern lernt. Denn in diesem Prozess lernt der Mensch, dass er nicht nur Gabe und Begrenzung seines Personseins integrieren kann, sondern er lernt, wie er damit jeder Herausforderung des Lebens mutig entgegenschauen kann. Denn bei der Bewältigung jeder Herausforderung, die das Leben dem Menschen entgegenträgt, greift der Mensch auf seine Gaben zurück und kommt in Berührung mit seinen Schwächen. Somit reift in der Beziehung nicht nur Wissen darüber heran, „Wer ich bin“ oder „Was ich kann“, sondern auch die Hoffnung, dass ich Zukunft bewältigen kann und mir das Leben gelingt.

Es ist gerade für uns Christen wichtig, dass wir das Ergebnis dieser Beziehungserfahrung, die sich zwischen Kind und Eltern ereignet, richtig auswerten. So handelt es sich bei dem erwähnten inneren Arbeitsmodell des Kindes nicht um eine Fähigkeit, die aus der Anlage eines Kindes, wie die Pflanze aus dem Samen, wächst. Vielmehr handelt es sich um die Fähigkeit, sich im Augenblick von Herausforderungen in seinem Denken und seinem Fühlen auf die Erfahrung von Beziehung zurückbeziehen zu können. Was uns daher die populärwissenschaftliche Psychologie als „Selbstbewusstsein“ verkauft, ist bei genauem Hinsehen eigentlich die Fähigkeit des Menschen, sich im Abenteuer des Lebens auf einen Vater und eine Mutter und deren Hilfe bei der Regulation von Gabe und Grenze, Stärke und Schwäche beziehen zu können. Hier sehen wir eine Deckungsgleichheit zwischen biblischer und psychologisch, bindungsorientierter Anthropologie.

Die Pubertät – eine Belastungsprobe?

Die oben skizzierte innige Beziehung zwischen Vater und Sohn wird zwar mit Beginn der Geschlechtsreifung unterbrochen, aber eben anders, als uns das bislang immer wieder eingeredet wurde.

Langezeit wurde Eltern vermittelt, dass sich Söhne und Töchter mit der Pubertät aus der Familie verabschieden und dass viele Konflikte zwischen Vater und Sohn darauf zurückzuführen sind, dass der Sohn den Vater nicht mehr idealisiert, sondern auf einmal dessen Schwächen erkennt. Daneben wird Eltern eingeredet, dass dieser Prozess nicht nur etwas mit der Ablösung aus dem Elternhaus zu tun hätte, sondern biologisch von den Hormonen bestimmt sei. – Oft hört man Eltern sagen: „Die Pubertät der Kinder, das wird eine schwere Zeit!“

Die Forschung stellt diesen Satz heute aus gutem Grund in Frage. Denn einmal fragt sie, ob dieser Satz in unserer Kultur nicht eher einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleicht, als der Wahrheit und sie fragt kritisch, ob die Rede von der Ablösung aus dem Elternhaus nicht eher der politischen Strömung der 68ger geschuldet ist und dem damaligen Glaube an die Psychoanalyse, die ihr Therapieziel dann erfüllt sah, wenn der Mensch sich von seinen Eltern distanzierte?

Egal zu welcher kritischen Erkenntnis man hier kommen mag. Jedenfalls zeigt die entwicklungspsychologische Forschung, dass die Krise des Jugendalters heute auch anders erklärt werden kann und hält fest, dass Kinder, die in der Pubertät zu Mann und Frau heranreifen, immer noch die regulierende Beziehung zu ihren Eltern brauchen. Nur eben anders.

Dieses „anders“ können wir nur recht verstehen, wenn wir uns Zeit nehmen, um uns in den Zustand einzufühlen, der durch den Entwicklungssprung mit der Pubertät im Jungen (und auch im Mädchen) ausgelöst wird.

Der Entwicklungssprung und das so ganz andere Verhalten von Kindern, die nun zu Jugendlichen werden, wird heute mit Hinweis auf eine komplexe Gehirnentwicklung erklärt. Vereinfacht kann man so sagen: Der Teil des Gehirns, mit dem der Mensch über sich selbst und andere reflektiert, nämlich der präfrontale Cortex, entwickelt sich weiter. Er wird – simple gesprochen – in seiner Art und Weise wie er Daten verarbeitet, schneller. Das ermöglicht dem jungen Menschen auf einmal abstrakte Dinge zu denken. Was aber lange Zeit weniger wahrgenommen wurde ist die Tatsache, dass mit dem abstrakten Denken sich auch die Fähigkeit des jungen Menschen verändert, über sich nachzudenken. D.h. der Pubertierende ist fähig, sich selbst zum eigenen Objekt seines Denkens zu machen. Damit sind aber einige Nachteile gegenüber dem Kindesalter verbunden. Diese simple Tatsache hat für den Jugendlichen ernste Konsequenzen. Denn ab jetzt beäugt er sich kritisch. Denn anders als in Kindertagen, kann er nicht mehr sagen, meine Schwächen verschwinden dann, wenn ich in eine andere Richtung schaue oder wenn ich mich ablenke. Sondern meine Schwächen bleiben bei mir und d.h., alle anderen können das auch sehen. Das Selbstbild des jungen Menschen kommt damit in die Krise.

Mit der Fähigkeit, sich zum Objekt des eigenen Denkens zu machen, ist aber noch ein anderes Phänomen verbunden. Der Jugendliche merkt, dass es ein „Innen“ gibt. Dort denkt man. Dort beobachtet man sich selbst. Dort nimmt man Bewertung vor und dort entstehen Gefühle. Daneben gibt es ein „Außen“, d.h. die Fähigkeit, all das, was ich innen drin denke und fühle, vor anderen zu verbergen.

Die Beobachtung aber, dass man das was, man in sich fühlt und denkt, nach außen – und vor allem gegenüber anderen – verbergen kann, führt dazu, dass der Jugendliche in seinen Beziehungen verunsichert wird. Denn wenn ich meine Gefühle und Gedanken verbergen kann, können es andere auch. Wem will ich nun also noch glauben? Wem kann man vertrauen?  Der Jugendliche fällt damit in das sogenannte „Bindungsloch“, was von außen häufig mit der Tatsache in Verbindung gebracht wird, dass er sich von seinem Elternhaus verabschieden will, was nicht stimmt. Denn der Rückzug aus Bindungen ist vor allem (sicher nicht ausschließlich) der inneren Verunsicherung geschuldet. Weshalb sich Jugendliche, vor allem Jungs, unterschiedlicher Formen des Rückzugs bedienen: So spielen sie „Cool“ oder tarnen sich mit überbordender Männlichkeit oder verschließen sich, werden stumm und kehren der Familie vermeintlich den Rücken.

Relativ gesunde Jungs geben dieses Verhalten oft wieder zwischen dem 16 und 18 Lebensjahr auf. Dann nämlich, wenn die Gehirnentwicklung abgeschlossen ist. Die Bindungsforschung weiss zu berichten, dass die meisten – vor allem bis dahin gesund aufgewachsenen – Jugendlichen dann wieder zu der Bindungssicherheit zurückkehren, über die sie vor Eintritt der Pubertät verfügten.

Sicher – und das soll hier auch nicht an Abrede gestellt werden – ist die Zeit der Pubertät, eine herausfordernde Zeit. Denn von außen betrachtet, ziehen sich die Jugendlichen zurück. Ebenso sehen sie Dinge kritischer. Nicht aber weil sie auf einmal die Fehler ihrer Eltern erkennen, sondern weil sie sich kritischer selbstreflektieren und weil sie durch den Fortschritt der Gehirnentwicklung auch andere Menschen kritischer reflektieren können.

Die Pubertät ist somit keine Zeit, in der sich Söhne von ihren Vätern verabschieden, sondern eine Zeit, in der Söhne ihre Väter auch weiterhin brauchen.

Ausblick: In Teil 2 dieses Artikels wird näher beleuchtet, warum die Pubertät eine „Totalbaustelle“ für den Jungen darstellt. Zudem werden erste Hilfestellungen aufgezeigt, wie der Vater hier den Sohn unterstützen kann.