Wir feiern dieses Jahr das 500-Jahr-Jubiläum der Schlacht von Marignano, welche für die Eidgenossen mit einer Niederlage gegen die französischen Truppen endete. Diese Niederlage im Jahre 1515 zeigte den Eidgenossen ihre Grenzen auf und führte dazu, dass diese fortan ihre Expansionsbestrebungen in Europa aufgaben und sich – mit wenigen Ausnahmen – auf ihr Territorium zurückzogen. Die Wurzel unserer heutigen Neutralität wurde hiermit gelegt und fand ihre Bestätigung beim Wiener Kongress 1815 mit der immerwährenden Neutralität.
Heute ist die Schweiz international stark verankert und Mitglied verschiedener Organisationen. Die internationale Vernetzung der Schweiz ist ein deutlicher Ausdruck ihrer Weltoffenheit und Solidarität. Die Schweiz ist seit 2002 auch Mitglied der UNO. Was ist die UNO? Die UNO hatte sich bei ihrer Gründung im Jahre 1945 zum Ziel gesetzt, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen. Mittlerweile ist die UNO zu einer Institution geworden, welche von der USA dominiert und vor allem politischen Grossmachtinteressen dient. Der Protest der UNO richtet sich oft nur gegen bestimmte kriegerische Auseinandersetzungen und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nur dort zur „Friedenssicherung“ eingreift, wo wirtschaftliche Ressourcen betroffen sind und bestimmte Länderinteressen auf dem Spiel stehen. Die Folge: Die UNO hat ihre Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüsst. Ein Mittun der Schweiz bei der heutigen UNO ist deshalb mehr als fraglich, insbesondere wenn wir neutral bleiben wollen.
Die UN-Charta schreibt vor, welche Mittel zur Friedenssicherung angewendet werden dürfen, z.B. wirtschaftliche oder militärische Zwangsmassnahmen gegen unliebsame Staaten. Zentraler Punkt hierbei ist: Den Staaten ist nach der UN-Charta untersagt, gegen das Gewaltverbot zu verstossen. Mit dem Gewaltverbot ist gemeint, dass keine Waffen gegen souveräne Staaten eingesetzt werden dürfen und eine Einmischung in innere oder äussere Angelegenheiten eines anderes Staaten nicht zulässig sind. Von diesem Gewaltverbot gibt es jedoch zwei Ausnahmen, unter denen militärische Gewalt erlaubt ist:
- das Recht auf individuelle oder kollektive (=mehrere Staaten) Selbstverteidigung bei einem bewaffneten Angriff;
- die Durchführung kollektiver Zwangsmassnahmen, wenn der UN-Sicherheitsrat diesen zugestimmt hat.
Hier zeigt sich das wesentliche Dilemma der Schweiz und ihrer Neutralität, über welches kaum mehr diskutiert wird: Beschliesst der UN-Sicherheitsrat wirtschaftliche oder militärische Zwangsmassnahmen, ist die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet, diese mitzutragen. Eine Berufung auf die Neutralität ist nach den UN-Vorgaben nicht vorgesehen. Es hängt somit weitgehend von den UN-Organen ab, inwieweit sich eine konsequente Neutralität im Rahmen der UNO durchführen lässt.
Ein Blick in die Zukunft: Der Bundesrat will die Neutralität endgültig aufgeben. Wie anders ist es zu erklären, dass der Bundesrat am 6. Juni 2015 einen Bericht verabschiedete, wonach die Schweiz, sich um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat bewerben soll. Werden wir uns bewusst: Der UN-Sicherheitsrat entscheidet sowohl über wirtschaftliche als auch militärische Massnahmen weltweit. Ein Beispiel aus der Vergangenheit soll dies verdeutlichen: 2011 beschloss der UN-Sicherheitsrat den Militäreinsatz gegen das Ghadafi-Regime. Die Schweiz hätte hierrüber mitentscheiden müssen, wenn sie im UN-Sicherheitsrat gewesen wäre. Sieht so eine glaubwürdige Neutralitätspolitik aus? Ganz zu schweigen von den gemeinsamen Übungen der Schweizer Luftwaffe mit mehreren NATO-Staaten an der Grenze zu Russland, was einer engen Tuchfühlung mit einer Militärallianz gleichkommt.
Angesichts dieser Tatsachen ist es schleierhaft, wie eine glaubwürdige Neutralitätspolitik den anderen Staaten gegenüber noch vertretbar ist. Wir machen militärische Übungen mit der NATO und wollen gleichzeitig als neutral betrachtet werden. Im UN-Sicherheitsrat wollen wir mitentscheiden und über andere Staaten richten und gleichzeitig als neutraler Staat respektiert werden. Eine glaubwürdige Neutralität sieht anders aus! Setzen wir nicht unsere historische Errungenschaft der Neutralität aufs Spiel, welche einem Kleinstaat wie der Schweiz gut ansteht und bleiben wir in der Tradition der guten Dienste, für welche die Schweiz stets geschätzt wurde. Auf das bisschen Prestige, eines allfälligen Sitzes im UN-Sicherheitsrat können wir gut verzichten. Es geht um mehr: Es geht um unsere Neutralität und unsere Glaubwürdigkeit in der internationalen Staatengemeinschaft. Die aus der strikten Beachtung der Neutralität erwachsende Glaubwürdigkeit ist für die Schweiz der weitaus beste Schutz auch für die Zukunft.
Ralph Studer (August 2015)